Jung, aufgeschlossen, postmigrantisch? Vorurteile und Rassismuserfahrungen einer neuen deutschen Generation

Jung, aufgeschlossen, postmigrantisch? Vorurteile und Rassismuserfahrungen einer neuen deutschen Generation

22. Dezember 2021

Fachtagung des Kompetenznetzwerks Islam- und Muslimfeindlichkeit am 10. November 2021 im dbb forum Berlin

Die Präsentation der aej-Jugendstudie bildete den inhaltlichen Auftakt der Fachtagung des Kompetenznetzwerkes Islam- und Muslimfeindlichkeit. Von Februar bis April 2020 hat die aej als Partner im KNW eine repräsentative Befragung von Jugendlichen zwischen 14 und 29 Jahren durchgeführt, um mehr über die Verbreitung insbesondere islamfeindlicher Einstellungen der Zielgruppe zu erfahren. Die Ergebnisse der Studie bestätigen die bisherige Forschung in Teilen, liefern aber auch neue Erkenntnisse und unerwartete Zusammenhänge. So konnte die Erhebung beispielsweise bestätigen, dass Vorurteile bei weiblichen Jugendlichen, bei solchen, die über Elternhäuser mit höherer Bildung verfügen sowie bei Jugendlichen, die in Großstädten leben und ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut einschätzen, weniger verbreitet sind.

Gleichzeitig lässt die Befragung höhere Zustimmungswerte zu Vorurteilen bei jüngeren Kindern und Jugendlichen erkennen – die 14-17-Jährigen wiesen gegenüber den über 18-Jährigen signifikant höhere Zustimmungswerte zu Vorurteilen auf. Da frühere Studien in der Regel für jüngere Befragte keine Altersunterschiede erhoben, ist dieser Befund in der bisherigen Forschung möglicherweise bisher unerkannt geblieben. Ein wichtiger Hinweis für die Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit sowie die jugendpolitische Bildung ist jedoch die Erkenntnis, dass Kontakte zu Muslim*innen und Vertreter*innen anderer Minderheiten über Social Media einen positiven Einfluss auf die Zustimmung zu Vorurteilen haben: Jugendliche die angaben, in diesem Rahmen über Kontakte zu verfügen, waren weniger vorurteilsbelastet. Gleichzeitig hat die Frage, ob sich Jugendliche als politisch selbstwirksam oder ohnmächtig erleben den größten Einfluss auf die Frage, ob sie Vorurteilen eher zustimmen oder diese ablehnen. Deutlich ist daraus als Auftrag an die Jugendarbeit herauszulesen, dass die Teilhabe an politischen Prozessen zu fördern ist, wenn Jugendliche stark gegen Vorurteile aufgestellt werden sollen: „Je mehr ich das Gefühl habe, keinen Einfluss darauf nehmen zu können, was die Regierung tut, desto mehr habe ich Vorurteile,“ beschreibt Olga Janzen den statistischen Effekt. Und schlussendlich ist ein Augenmerk auf die Religiosität von Jugendlichen ohne Rassismuserfahrungen zu legen. Denn es zeigt sich, dass sowohl eine stärkere Religiosität als auch insbesondere ein exklusives Religionsverständnis mit höherer Zustimmung zu Vorurteilen einhergehen.

In einem zweiten Vortrag beleuchtete Dr. des. Aylin Karabulut die Erfahrungswelt der von Rassismus betroffenen Jugendlichen der gleichen Generation. Eindrücklich zeigte sie in ihrem Vortrag, wie die rassistische Strukturierung der Gesellschaft Auswirkungen bis auf das Alltagsleben der betroffenen Jugendlichen hat. So konnte die inzwischen als Standard-Erhebung der rassismuskritischen Forschung eingestufte Studie „Max und Murat“ (Universität Mannheim 2018) nachweisen, dass Lehramtsstudierende die Tests von Kindern mit türkischen Namen bei exakt gleicher Fehlerquote wie jenen der deutschen Vergleichsgruppe deutlich schlechter bewerteten. Das Schulsystem sei wenig geneigt, sozial benachteiligten Kindern einen Aufstieg zu gewähren, sondern diskriminiere Kinder und Jugendliche BIPoC vielmehr strukturell. „Schule ist ein sehr zentraler und wirkmächtiger Raum, in dem Jugendliche Rassismuserfahrungen machen,“ fasst Aylin Karabulut in ihrem Vortrag die Ergebnisse jüngerer Studien zusammen. Die reflexhafte Abwehr eines konsistenten Rassismus-Verständnisses als umfassendes System bei Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft verhindere jedoch noch, dass ein Umsteuern möglich werde. Im europäischen Vergleich stehe das deutsche Bildungssystem schlecht da, wenn es darum gehe, soziale Mobilität zu schaffen und allen Kinder und Jugendliche die gleichen Chancen einzuräumen.

Nach der Mittagspause konnten sich die Teilnehmer*innen vor Ort einem von drei Workshops zuteilen. Djalila Boukhari, Rassismus-Kritik und Empowerment-Trainerin, führte einen Workshop zum Thema „Intervention bei rassistischen Vorfällen im Kontext Jugendarbeit“ an. Shemi Shabat, Leiter des Antidiskriminierungsnetzwerks des TBB (ADNB), schaltete sich digital dazu, um einen Workshop zum Thema „Leerstelle antimuslimischer Rassismus. Finden muslimische Jugendliche Beratung, wenn sie welche benötigen?“ anzubieten. Der dritte Workshop widmete sich „Präventionskonzepten im Handlungsfeld Schule“ und wurde von Nabeela Khan und Donja Banai von der Bildungsstätte Anne Frank durchgeführt. Da dieser Workshop im Livestream übertragen wurde konnten sich die digital zugeschalteten Teilnehmer*innen auch über den Chat einbringen.

Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete schließlich das Abschlusspodium, das mit Dr. Aylin Karabulut, Kofi Ohene-Dokyi vom Bundesjugendkuratorium, Batol Kobeissi von Bündnis für muslimische Jugendarbeit sowie Jaqueline Kauka vom Landesjugendring Berlin hochkarätig besetzt war. Die Podiumsgäste verorteten die zuvor in Fachvorträgen vorgestellten gesellschaftlichen Diagnosen anhand von konkreten Beispielen in der Kinder- und Jugendarbeit und machten deutlich, an welchen Stellen großer politischer Handlungsbedarf besteht.

Zum Abschluss der Tagung wurden den Teilnehmer*innen die wichtigsten Thesen aus den Vorträgen und Diskussionen der Tagung vorgelegt, um eine Gewichtung der drängendsten Forderungen an Politik sowie Kinder- und Jugendarbeit zu formulieren. Am häufigsten wurden diese Thesen in absteigender Reihenfolge gewählt:

  1. Diskriminierungsschutz an Schulen und Jugendeinrichtungen etablieren
  2. Rassismus und Diskriminierung als Pflichtthemen für Lehramtsausbildung
  3. Antidiskriminierungsbeauftragte für Schulen in allen Bundesländern
  4. Rassismuskritische Trainings für Kollegien und Verwaltung
  5. Empowerment-Räume für Betroffene an Schulen schaffen

Die Forderungen werden über das Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit beworben und an Entscheidungsträger*innen weitergeleitet.

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